Bewegte Bilder
Belinda Grace Gardner
Zwischen An- und Abwesenheit: Frank Wiebes Landschaften einer Wirklichkeit im Fluss
„…Eisenbahn, Auto, Jet, Flugzeug, Telefon, Fernsehen… durch die Prothesen des Reisens verläuft unser ganzes Leben im Zeitraffer, doch wir merken es gar nicht mehr…“
( Paul Virilio )(1)
Wenn man aus einem fahrenden Zug blickt, verfließt die vorbeiziehende Landschaft im Fensterrahmen zu einer rasanten Sequenz unzähliger Einzelbilder. Die Konturen von Bäumen, Wiesen, Hügeln, Häusern verdichten sich dabei zu flüchtigen Impressionen von Farben und Formen. Das Fensterbild wird zum Filmbild: ein cineastisches Ereignis, das vor dem inneren Auge des Betrachters vorüberflirrt, während man im Umkehrschluss, wie der französische Geschwindigkeitstheoretiker Paul Virilio bemerkt hat, „die Kinoleinwand oder den Monitor so betrachten“ könnte, „als schaute man aus dem Fenster, solange Zug und Flugzeug nicht ihrerseits Kinos geworden sind“(2). Tatsächlich treffen hier zwei Dynamiken aufeinander: Der oder die Reisende bewegt sich durch eine für sich genommen immer schon in Bewegung befindliche Realität. Denn im Fluss der Zeit und in den Zyklen des Lebens gibt es keinen Stillstand, ist alles ständig im Prozess des Werdens und Vergehens begriffen. „Zusehends beginnt sich alles zu bewegen“, befindet Virilio angesichts der massiven Beschleunigung unseres Daseins durch hochtourige Motorisierung unserer Fortbewegungsmittel und die Virtualisierung der Wirklichkeit auf Kinoleinwänden und Computerscreens, „das Sehen löst sich allmählich auf und bald auch die Materie und die Körper. (…) die lokomotorische Täuschung wird als Wahrheit des Sehens gelten, genauso wie die optische Täuschung als Wahrheit des Lebens gilt.“(3)
Die Idee einer Realität, die sich in die „Frames“ eines Filmstreifens zerteilt, und simultan an die beschleunigten Ansichten einer im Zug oder schnellen Auto durchquerten Landschaft denken lässt, rufen die Bilder der seit 2012 entstehenden Serie The Last Resort von Frank Wiebe hervor. Wie Teststreifen für das Auge, eine Bildstörung, die ihrerseits Bilder erzeugt, entfalten sich in vertikaler Reihung zugleich getrennt und ineinander laufend komplementärfarbene rote, grüne, fast schwarze oder auch purpurne, violette und smaragdfarbene Felder. Diese befinden sich implizit, gleichermaßen untergründig und aus ihren Tiefen heraus, in Wallung. Es zischt und brodelt darin wie in aufgewühlter Brandung am Meeressaum. Das Terrain ist bisweilen unscharf, als würde man eine feinstoffliche Wolkenwand durchfliegen oder durch Nebelschwaden hindurch gleiten. Oder als wäre die Scheibe eines Zugfensters mit Feuchtigkeit beschlagen und versperre die Sicht auf die draußen vorbeirauschende Welt. In anderen Bildräumen dieser Gruppe liegt ein Wetterleuchten in der Luft, zieht ein Sturm auf, geht ein Riss durch die Sphären zwischen Tag in Nacht, Traum und Erwachen, schlägt Land in Wasser um, wandelt sich Wasser zu Dunst, bevor dieser in lichterlohen Flammen aufgeht wie bei einem Sommersonnenaufgang auf hoher See.
In den Arbeiten seiner Serie The Last Resort evoziert Wiebe mit den Mitteln der Malerei Filme in den Köpfen der Betrachter, die um Natur und Landschaft ebenso kreisen wie um die inneren Gefilde der individuellen Imagination. Frank Wiebe ist ein Regisseur der Farbe, und die Leinwand ist seine Bühne, ein Spielort für bewegte Bilder, wo die Ereignisse nicht nur in Fluss gebracht, sondern auch in medias res angehalten werden: ein momentaner Ruhezustand, der ein Erkennen und Erkunden dessen, was sich im Fluss befindet, überhaupt erst möglich macht. In seinen berühmten Bemerkungen über Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit grenzt Walter Benjamin die Medien des Films und der Malerei genau an dieser Stelle voneinander ab: „Man vergleiche die Leinwand, auf der ein Film abrollt, mit der Leinwand, auf der sich das Gemälde befindet. Das letztere lädt den Betrachter zur Kontemplation ein; vor ihm kann er sich seinem Assoziationsablauf überlassen.“(4) Bei Wiebe findet im Erlebnisraum der Malerei einerseits eine Entschleunigung statt, die laut Hartmut Böhme unabdingbar für „ein erkundendes Sehen“ ist, „das zu einer individuierenden Erinnerung und zu einer differenzierten Urteilskraft“(5) zu führen vermag. Andererseits ist das Geschehen hier in ständiger Wandlung begriffen: eine Veränderlichkeit, die den Kompositionen des Künstlers grundsätzlich innewohnt und durch die individuellen Perspektivwechsel der Betrachter noch erweitert wird. „Das Bild ist immer in Bewegung“, bestätigt Wiebe im Gespräch mit Katharina Henkel in der vorliegenden Publikation. „Es entsteht und vergeht gleichzeitig. Dabei haben die Farbe und die Art und Weise, wie sie aufgetragen wird – dicht oder offen oder fest oder fließend – maßgeblichen Anteil.“(6)
Die eigentlich divergierenden Energien des Erscheinens und Verschwindens bilden eine spannungsreiche Synthese, eine „Balance der Tempi“(7), wie Böhme das erstrebenswerte Gleichgewicht von Geschwindigkeit und Langsamkeit in unserem „posthumanen Zeitalter“(8) in seinem Katalogbeitrag zur Wolfsburger Ausstellung Die Kunst der Entschleunigung 2011/2012 nennt. Die Serie The Last Resort handelt, wie Frank Wiebes gesamtes Werk, im weitesten Sinne vom Drama natürlicher Prozesse und Phänomene, Lichtstimmungen, Landschaftsformationen, Temperaturen und Wetterlagen, die ihrerseits für innere Befindlichkeiten stehen mögen. Diese zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion changierenden thematischen Unterströmungen ziehen sich durch das Schaffen des Malers hindurch, ohne je explizit benannt oder konkretisiert zu werden. In den Bildern der Gruppe The Last Resort obstruiert Wiebe bewusst die eindeutige Lesbarkeit der Bilder zusätzlich durch Verlagerung der Blickrichtung von der gewohnten horizontalen Erschließung entlang einer Zentralachse, die oben (Himmel) von unten (Erde) trennt, in die Vertikale eines quasi filmischen Nacheinanders. Der Maler sieht die „aneinander gereihten Flächen als Auszug aus der Natur (…), als eine Abfolge von senkrecht stehenden Membranen, die auch als Schächte verstanden werden können“(9). Diese „Membrane“ oder „Schächte“ führen den Blick des Betrachters ins Bild hinein und schaffen dabei Übergänge von einem oszillierenden Farbfeld zum anderen. Hier manifestiert sich auch das „Grundinteresse“ des Künstlers „an Stofflichem, an Aggregatzuständen und den Verbindungen der Elemente“(10): ein Gegenüberstellen und Ineinandergreifen des Flüssigen und des Festen(11), des Schemenhaft-Ungreifbaren und des Lodernd-Expressiven als dialektisches Zusammenspiel der verschiedenen Kräfte.
Der Titel der Gruppe The Last Resort, nach der auch diese Publikation benannt wurde, ist entsprechend vieldeutig. So bezeichnet er die „letzte Instanz“ oder den „letzten Ausweg“, nimmt Bezug auf die „letzte Zuflucht“ oder auch auf einen ultimativen Ort der Erholung. Die leichte (Selbst-)Ironie, die darin mitschwingt, hinterfragt nicht zuletzt das weit in die Kunsthistorie zurückreichende, bis heute anhaltende ästhetische Projekt malerischer Wiedergabe und Erfindung von Natur und Landschaft. Der Künstler schafft sich sein eigenes Paradies, eine „letzte Zuflucht“, so lässt sich der Titel interpretieren, und gibt der von zivilisationsbedingter Zerstörung und den diversen Beschleunigungsmechanismen des Fortschritts bedrohten natürlichen Umwelt ein Refugium. Die Schere zwischen Natur und Kultur wird auch im Titel der jüngsten, seit 2013 expandierenden Serie von Frank Wiebe, Heligoland, angesprochen. Hier nun verknüpft der Künstler gedanklich und motivisch die „von der rauen Nordsee umspülte Insel“(12) Helgoland mit einer Bezugnahme auf die Spielzeugwelt Legoland, die er als „Land, das wir auf vier mal zwei Zentimeter große Plastikbausteine reduzieren können“(13) bezeichnet. Die wilde, unberechenbare, natürliche Landschaft trifft auf die künstliche, durchgeplante Bauklotzwirklichkeit eines Freizeitparks.
Wiebe hat die charakteristische Form der Insel mit ihren Steilklippen und hohem freistehenden Felsen „Lange Anna“ als wiederkehrendes Element der Serie umgewandelt und abstrahiert. „Helgoland“ wird so zu einer Chiffre, einem Symbol, das mehr oder weniger deutlich auf das Ausgangsbild verweisend in einem zwischen Weltall und Ozean schwankendem Raum schwebt und dahintreibt: umgeben von wirbelnden, gischtgekrönten Wellen oder dunklem, von Sternen durchsetzen Nachthimmel, der gelegentlich von lichtem Blau oder hellem Sonnenschimmer durchbrochen den Tag im Ausschnitt sichtbar werden lässt, wie ein Fenster in eine zweite, dahinterliegende Wirklichkeit. In einigen Werken der Gruppe zeichnen sich auch, als wären sie dem Lego-Baukasten entsprungen, scharfkantige geometrische Silhouetten vor den diffus-organischen Inselgebilden ab. Teils ist das Motiv fast bis zur Unkenntlichkeit aufgelöst und offenbart dadurch eine gewisse Nähe zu den gestisch-pastosen Natur- und Landschaftsbildern des expressiven Malers Klaus Fußmann (*1938), Wiebes Lehrer an der Hochschule für Bildende Künste Berlin, der konstatierte, dass erst das Kunstwerk die Natur überspringe.(14) Die in viele Richtungen offen gehaltenen Kompositionen der Serie rufen eine Fülle von Assoziationen hervor, darunter auch zu dem mehrfach variierten Werk Die Toteninsel (Urversion 1880, Kunstmuseum Basel) des deutschen Symbolisten Arnold Böcklin (1827–1901), oder aber zu Gemälden des deutschen Frühromantikers Caspar David Friedrich (1774–1840) wie Nebelschwaden (1820, Kunsthalle Hamburg), Mondaufgang am Meer (1822, Nationalgalerie Berlin) oder auch Das Eismeer (1823/24, Kunsthalle Hamburg).
Frank Wiebe hat nach eigenem Bekunden eine besondere Affinität zur Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts, wenn diese auch nur als Andeutung in seinen Kompositionen anklingt, neben den Landschaften Friedrichs spezifisch auch zum Werk des romantischen Malers und Naturphilosophen Carl Gustav Carus (1789–1869).(15) Doch speist sich der Fundus, aus dem Wiebe Inspiration für seine landschaftlichen Abstraktionen und gegenstandslosen Naturräume bezieht, aus einer breiten Palette an Eindrücken, die aus kunstgeschichtlichen Quellen ebenso stammen können wie aus eigenen fotografischen Aufnahmen und mental abgespeicherten Landschaftsansichten, die er auf seinen zahlreichen Reisen gesammelt hat. Seine Malerei entsteht indes nicht auf Basis einer bestimmten Vorlage. Vielmehr verfließen die verschiedenen Bilder und Erinnerungen darin zu einer vielschichtigen, wenn man so will, multicodierten Textur, in der eigenes Erleben, kunsthistorisches Wissen und persönliche Erfindung verwoben sind. Wie Hans Belting in seiner Abhandlung über das photographische Bild bezüglich des übergreifenden Problems einer verbindlichen medialen Repräsentierbarkeit von Wirklichkeit feststellt: „Die Welt besitzt keine Bilder von sich, die man ihr nur entreißen müsste. Die Bilder entstehen in einem Blick, der nach einem neuen und persönlichen Einblick sucht. Sie sind die Bilder dessen, der auf die Welt blickt.“(16)
Das gilt auch für die Bilder, die Wiebe aus den äußeren und inneren Realitäten seiner Erfahrungswelten hervorbringt und im Raum seiner Malerei Gestalt gibt. Dabei greift er nicht nur auf visuelle Fragmente und Fundstücke zurück, die er in immer neuen Konstellationen, einem kaleidoskopischem Remix-Verfahren gleich, zusammenfügt. Auch Musik kann zum Auslöser von Bildern werden, wie in der Serie Blax (2007–2009), deren Titel auf das emanzipatorische afroamerikanische Blaxploitation-Kino der 1970er Jahre und die dazugehörigen Soundtracks von Soul-Größen wie Isaac Hayes, Curtis Mayfield, Bobby Womack und James Brown anspielt. Wie in den späteren Serien sind die darin entworfenen Schauplätze nicht eindeutig zu lokalisieren: Sie lassen an Unterwasserregionen mit mysteriösen leuchtenden Wesen ebenso denken wie an die funkelnden Tiefen des Alls oder an nächtliche Küstenstreifen, über denen Reste eines farbgewaltigen Sonnenuntergangs nachglühen. In der Natur und der Landschaft findet Frank Wiebe ein potenziell grenzenloses Terrain der ästhetischen Abenteuer und Erforschungen. Als „elementares Ursprungsthema“ bietet es ihm, wie er sagt, die „größte Möglichkeit“, sich „mit Malerei auseinanderzusetzen“(17). Die Dynamik der Wandlung, die diesem weitläufigen, traditionsreichen Themenfeld inhärent ist, drückt sich in einer Auflösung der Gewissheiten auf allen Ebenen aus, wobei die auf der Leinwand evozierten „Naturzustände“(18) ebenso verwischen wie die Grenzen zwischen den Bildquellen, Zeiten und Orten, aus denen der Künstler schöpft.
In seinen Kompositionen werden der kunsthistorische Verweis und die realitätshaltige Beobachtung durch den introspektiven Filter der Phantasie gebündelt und freigesetzt. Dem Postulat des Konstrukteurs transzendentaler Ideallandschaften Caspar David Friedrich lose folgend, fasst er nicht nur das „was er vor sich sieht, sondern auch was er in sich sieht“(19) in Malerei. Die Orientierung des Betrachters wird in Wiebes Landschaften außer Kraft gesetzt und in neue Bahnen gelenkt. Der Pfad durch die Bilder geht den malerischen Rhythmen nach, die er der Künstler als Wegmarken und visuelle Stolpersteine platziert hat: ein flexibles Koordinatensystem, das eigenen Gesetzen gehorcht und Faktoren enthält, die den Blick arretieren, umleiten und in überraschende Richtungen führen. Auf den „akzelerierten Experimentalismus der Kultur“(20), den Hartmut Böhme als Symptom unserer Zeit diagnostiziert, reagiert Wiebe mit einer simultanen Aktivierung und Konsolidierung der Elemente auf der Leinwand. „Jedes entdeckende Sehen ist langsam getaktet“(21), so Böhme. Wiebes bewegte Bilder lassen die Optionen offen: Sie laden gleichermaßen zum Mitreisen und zum Verweilen ein. Als Fenster der Innen- und Außenschau, der Kontemplation und der Stimulation, halten sie die Spannung zwischen der Mobilisierung von uns, den Betrachter, zur Rezeption unserer beschleunigten Welt in ihrer ganzen ultra-dynamischen Opulenz und unserer Sensibilisierung für die subtileren Energien, die unter deren ungestümer Oberfläche weiterhin wirksam sind.